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Ovacik

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17 Nisan 2009 Cuma

Ein Schritt vor und zwei zurück


Die Demokratisierung in der Türkei befindet sich am Scheideweg


Von Mieste Hotopp-Riecke



Der Sänger Ferhat Tunç zwischen Soldaten der türkischen Armee

Foto: Ferhat Tunç / DIHA


Die innenpolitische Entwicklung in der Türkei gebe zu ernster Besorgnis Anlass, so Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen, Ende April nach einer Reise in den unruhigen Südosten der Türkei. In Europa wird nach Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Demokratisierungsprozess in der Türkei anscheinend mit der Angleichung der türkischen Gesetze an EU-Standards gleichgesetzt. Manch prominenter EU-Befürworter in der Türkei sieht dies weitaus differenzierter. In den letzten Monaten sinkt die Zustimmung zur AKP-Regierung Erdogan kontinuierlich, die ökonomische Dauerkrise hält an, während das Thema Türkei-EU-Beitritt aus den Medien verschwindet. Nun sind manche PolitikerInnen, wie die Grüne Roth, ob der seit einigen Wochen massiv in die Medien zurückkehrendenKurdischen Frageüberrascht und ratlos. Was ist passiert? Die Festnahme Abdullah Öçalans vor sieben Jahren, Waffenstillstand von Seiten der kurdischen Guerilla und der Abzug derselben vom türkischen Staatsgebiet entfachten einen regelrechten Enthusiasmus für eine demokratische Lösung des Kurdenproblems. Doch viele Chancen bliebenungenutzt, auch unter der AKP-Regierung blieb die alte Politik des Ignorierens und Bekämpfens Richtschnur des politischen und militärischen Handelns. Etliche Bombenanschläge - auch im Westen der Türkei - wurden von Politik und Medien in alter Manier kurdischen Untergrundkämpfern angelastet. Doch dann kam es in der Kleinstadt Semdinli im äußersten Südosten des Landes zu einem Bombenanschlag auf einen Buchladen, der einem ehemaligen PKK-Kämpfer gehört. Diesmal konnten die Täter gefasst werden: Offiziere des türkischen Geheimdienstes MIT. Dank des beherzten Handelns von Passanten und einer zusammengelaufenen Menschenmenge konnten falsche Papiere, Waffen, das Auto der Attentäter und eine Todesliste beschlagnahmt werden. Dies offenbarte, wie Geheimdienste Armee und Politiker in solch terroristische Provokationen verstrickt sind.


Die Türkei kommt nicht zur Ruhe Das war im November 2005, und seitdem kommt die Türkei nicht zur Ruhe. Im Gegenteil: Nach der Beerdigung von Kämpfern der HPG (Hêzên Parastina Gel / Volksverteidigungskräfte) in Diyarbakir Ende März 2006 kam es landesweit zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und kurdischen Demonstranten. Die HPG ist die Auffangorganisation der ARGK (Artesa Rizgarîya Gelê Kurdistan / Volksbefreiungsarmee Kurdistans), dem ehemaligen bewaffneten Arm der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan / Arbeiterpartei Kurdistans). Zwölf Menschen wurden von Sicherheitskräften erschossen, darunter drei Kinder.


Osman Baydemir, Bürgermeister der Kurdenmetropole Diyarbakir ist besorgt: „Ich habe zwei Befürchtungen - zum einen die Gefahr einer intensivierten bewaffneten AuseinandersetzungIch befürchte, dass diese tiefer greifende Folgen haben wird, als der vorherige Krieg [in den 80er/90er Jahren, d.A.]. “ Zum anderen befürchte er, dass es zu einer Distanzierung in den

Beziehungen zwischen Türken und Kurden kommt: „Die Veränderung der Gefühlslage zwischen Menschen kann behoben werden, aber zwischen zwei Völkern ist dies schwer. Ich sehe diese Gefahr, wir dürfen dies auf keinen Fall zulassen“, warnt Baydemir.


Die Strategie, durch Beschwichtigungen, Ignorieren, Aussitzen oder Verleugnen die kurdische Frage aus dem Politikgeschäft der Türkei auszublenden, hat sich als Bumerang erwiesen. Hatte Recep Tayyip Erdogan noch vor seinem Amtsantritt erklärt, der Weg nach Europa führe über Diyarbakir, ist von einer initiativen Politik in Richtung sozioökonomischer Gesundung des

kurdischen Südostens der Türkei nichts zu spüren. Auch Dr. Heinz Kramer, Wissenschaftler am Institut für Sicherheit und Politik in Berlin - dem wichtigstenThinktank“ der Bundesregierung konstatiert, dass die „jüngsten Entwicklungen im türkischen Kurdengebietein deutliches Indiz für das Versagen der AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan in diesem Konflikt“ seien. „Das unbeugsame Festhalten des türkischen Staates am strikten Vergeltungsprinzip führt letztlich zur Perpetuierung des PKK-Heroismus, bringt zivile Kurdenpolitiker in ein unnötiges Rechtfertigungs- und Solidaritätsdilemma und verfestigt so die labile Lage in den Kurdenprovinzen.“ so Kramer.


Kurdische Künstler einen Schritt voraus?

Angesichts der fehlenden Anerkennung der kurdischen Identität und Kultur wurden kurdische Künstler und Wissenschaftler nun selbst aktiv. Vielen von ihnen bleibt der Zutritt zu großen Medienanstalten, Konzertarenen und Produktionsfirmen verwehrt, da kurdische Videoclips nicht gesendet werden und kurdische Künstler vor Konzerten ein Anmeldeprozedere durchstehen müssen. Nun gründeten kurdische Musiker, Sänger und Produzenten eine landesweite Organisation, die „Kurdische Künstlerinitiative“. Prominente GründerInnen sind Nilüfer Akbal, Rojin, Sivan Perwer, Metin Kahraman, Aynur Dogan und Ferhat Tunç.


Die Sängerin Rojin sagte anlässlich der Gründung: „Wohnortnachweis, Führungszeugnis und weitereDokumente - das sind Pflichten, die lediglich kurdischen Musikern auferlegt werden. Auf welchergesetzlichen Grundlage diese Auflagen beruhen, ist unbekannt. Dieses Verfahren ist erniedrigend und Produkt einer Denkweise, die uns als potentielle Schuldige betrachtet. Bezweckt wird damit, Druck auf uns und die Konzertveranstalter auszuüben. Zum gleichen Zweck werden unsere Konzerte von der Polizei per Kamera aufgenommen.“Des weiteren bemängeln die Künstler, dass ihre Alben gerade dann mit Verboten und Prozessen belegt werden, wenn sie sich besonders gut verkaufen. Anschließend würden die Prozesse meist mit Freispruch enden, die Verbote wieder aufgehoben. Eine widersinnige Ping-Pong-Politik, die zermürben solle. Als Rojin im türkischen Fernsehen ihre Lieder sang, bekam die Starmoderatorin Yildiz Tilbe,ebenfalls Kurdin, eine Verwarnung wegen Ausstrahlung kurdischer Musik - direkt vom Staatsministerium in Ankara. Immerhin löste dies eine breite Diskussion in den Medien aus, vor Jahren wären beide sicher verhaftet worden. Wenn Kramer in seinem Papier die Frage stellt, ob eine weitere Maßnahme der türkischen Regierung sein müsse, „dass Kurdisch als Lehrfach an staatlichen Schulen, Kurdologie als Lehr- und Forschungsgebiet an Universitäten und kurdischsprachige Rundfunk- und Fernsehsendungen unbegrenzt zugelassen werden müssten?“, ist die Antwort der kurdischen Künstler klar.Der Anfang wirklicher Reformen steht noch aus Ja, und das kann nur der Anfang sein.“ So jedenfalls steht der Sänger Ferhat Tunç zu diesen Fragen,der teilweise in Deutschland aufwuchs und die Kurdenpolitik Deutschlands aktiv verfolgt. Tunç, Mitinitiator der „Kurdischen Künstler-Initiative“, wird seit Jahren von den türkischen Behörden schikaniert. Sei es, weil er in einer Kolumne für die Freilassung von Leyla Zana eintrat, der Ikone der kurdischen Demokratiebewegung, die zehn Jahre im Gefängnis saß, weil sie es 1991 gewagt hatte, als frischgewählte Parlamentarierin ihren Amtseid auch auf kurdisch zu sprechen, sei es der Erfolg seiner emotional-politischen Protestmusik oder weil er sich im türkischen Menschenrechtsverein IHD (Insan Haklari Dernegi) engagiert. Im Moment laufen in der Türkei mehrere Verfahren gegen ihn.


Vorgeworfen werden ihm immer wieder Aufstachelung zum Völkerhass, Beleidigung der Armee, des Staates oder ähnliche Delikte, die auch nach dem Verabschieden von EU-Anpassungsgesetzespaketen nicht haltbar erachtet wurden, entfernte man. Doch an ihre Stelle traten andere. Auch das gefürchtete Instrument „Antiterrorgesetzwurde gestrichen und soll nun wieder eingeführt werden.Dabei geht es Tunç in seinen Liedern, die er auf türkisch und kurdisch singt, um Brüderlichkeit der Völker, um Liebe, Verständigung und Frieden. Genau das war auch sein Antrieb, sich im letzten Jahr für eine besondere Mission zur Verfügung zu stellen. Mit dem Filmemacher und Publizisten Umur Hozatli und dem IHD-Vorsitzenden von Diyarbakir übernahm er einen von der Guerilla gefangen genommenen Soldaten und übergab ihn den türkischen Sicherheitsbehörden, zur Erleichterung der Eltern und Verwandten des Soldaten. Anstatt diese zivile Initiative zu honorieren, folgten eine Festnahme und neue Prozesse.



Das so genannte kurdische Problem ist also auch ein Problem der türkischen Politikerkaste, Militärsund Kriegsgewinnler, die sich vom engstirnigen Nationalismus des Übervaters Atatürk nichtemanzipieren können oder wollen und so den Anschluss der Türkei an Europa versäumen könnten.Multikulturalismus, Regionalismus und multiple Staatsbürger-Identitäten als Chance nicht nurkultureller, sondern auch sozioökonomischer Entwicklung etwa nach Schweizer oder sorbischdeutschem Muster schimmern noch in ungewisser Ferne.


Doch Künstler wie Rojin oder Ferhat Tunç werden sich nicht ins Exil treiben lassen, wie viele prominente Kurden vor ihnen. Sie werden nicht aufgeben, sich weiter für Menschenrechte, Demokratisierung und die Offenlegung von Missständen einzusetzen, so Ferhat Tunç zu den Perspektiven der Künstler. Er appellierte anlässlich der Verleihung des FreeMuse-Awards für dieFreiheit des Wortes und der Kunst an alle Künstler und Intellektuellen in Europa: „Lassen Sie nichtnach, die Demokratisierung zu unterstützen, Freiheit der Kunst ist Ausdruck von echter Demokratie!“Die Homepage von Ferhat Tunç: www.ferhattunc.net Aktuelles Album von Rojin: „Ya hep ya hiç“ („Alles oder nichts“) www.rojinrojin.com Die SWP-Studie „Unruhen im türkischen Kurdengebiet“ von Heinz Kramer ist unter folgender Internetadresse zu finden:


www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?id=1655

zenith, 14.06.2006

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